Vom Spiel mit dem Schicksal
- Restlesstraveller
- 14. Sept. 2019
- 6 Min. Lesezeit
!Hätte sie das bloss nicht gesagt! Man sagt ja, man solle das Schicksal nicht herausfordern. Wer auch immer das gesagt hat: Scheisse, er/sie hatte Recht!
«Verdammt, ich weiss nicht wie das passieren konnte, aber mein Rucksack ist vollgestopft und scheissschwer!» Meine Reisepartnerin Helen sah mich mitfühlend an. «17, wie zum Teufel kann ich 17 und du bloss 10 Kilos haben? Wir haben ja zusammen gepackt, das war doch gleich viel?» Wir hatten uns doch so gut vorbereitet! Vorgängig zu unserer Reise hatte ich Helen engagiert, mir behilflich zu sein, da sie, im Gegensatz zu mir, eine Meisterin der Askese ist wenn es ums Packen geht. Ich versuchte mich von Anfang an zu beschränken, legte alles aus, was ich mitnehmen wollte. Helens Fazit: Sieht gut aus, überhaupt nicht zu viel! Ich war erleichtert, und Euphorie überkam mich. Bis zu der Nacht vor unserem Flug, als ich abends um zehn noch panisch versuchte, irgendwie alles in meinen Rucksack zu stopfen. Es gelang, doch dann musste ich entsetzt feststellen, dass ich meinen Kulturbeutel vergessen hatte. Also nochmals auspacken. Worauf konnte ich bloss verzichten? Die schlimmste Krankheit von Lehrpersonen ist ja, dass man peinlich genau plant und für alle Eventualitäten vorbereitet sein will. Nach meiner letzten Reise hatte ich mir fest vorgenommen, das nächste Mal enthaltsamer zu packen. Und meine Hoffnungen in Helen gesetzt. Ich hatte sogar einen ganzen Kleiderbeutel weniger gepackt als das letzte Mal! Warum also war es dieses Mal trotzdem mehr? Das konnte doch nicht bloss an den Wanderschuhen liegen? Jetzt, abends um zehn war es allerdings eindeutig zu spät für mich, um ein neues Packkonzept zu erstellen, also stopfte ich fanatisch einfach alles irgendwie rein und schnürte ihn zu. Um drei Uhr morgens klingelte mich der Wecker aus dem Bett: mein Packdesaster hatte mich bis in meine Träume verfolgt. Ich ass eine Kleinigkeit und zog mich an. Der April machte seinem Namen alle Ehre und begrüsste uns heute, nachdem es wochenlang schön und fast schon sommerlich warm gewesen war, mit Schnee. Es war eisig kalt, doch wir würden in die Wärme fliegen, da konnte ich mich nicht wie ein Inuit in (natürlich für mich fake-) Pelze oder Fell hüllen. Als ich mit meinem Rucksack zur Haustür rausstolperte, war Helen bereits da. Entmutigt zeigte ich auf meinen Rucksack. Ich hatte sie bereits per Whatsapp über mein Dilemma informiert, liess es mir jedoch nicht nehmen, lautstark zu protestieren: «Verdammt, ich weiss nicht wie das passieren konnte, aber mein Rucksack ist vollgestopft und scheissschwer!»
Mein Debakel beschäftigte mich die gesamte Zugfahrt zum Flughafen über, als mir rausrutschte: «Wär mir auch egal, wenn er nicht ankommt, ich will den gar nicht die ganze Zeit rumschleppen!» Kaum hatte ich das ausgesprochen, schlug ich mir entsetzt die Hand vor den Mund. Holz klopfen, Holz klopfen, Holz… «Das kannst du doch nicht sagen, sonst passiert es dir noch!», schalt mich Helen schockiert. «Ich nehm´s zurück!», versicherte ich ihr und dem Schicksal reuig, obwohl ich wusste, dass man Gesagtes nicht zurücknehmen kann. Daraufhin wurden ihre Gesichtszüge weicher, und sie meinte gelassen: «Mir kann das ja nicht mehr passieren!», und lachte dabei. Tja. Da hätte sie sich wohl noch retten können. Aber als ich sie fragend anblickte, begann sie zu erzählen: «Ich bin mit meiner Mutter nach Griechenland geflogen, aber bei der Gepäckausgabe kam mein Gepäck einfach nicht. Also fragte ich nach und erfuhr, dass es noch in der Schweiz war, man es mir aber so rasch wie möglich nachschicken wolle. Als es zwei Tage später noch immer nicht da war, gestand man mir am Telefon beschämt, dass man das Gepäck versehentlich nach Mailand geschickt hätte anstatt nach Griechenland. Ich bekam es erst zwei weitere Tage später und musste so lange den Bikini meiner Mutter zum Sonnenbaden tragen.» Aber Helen war noch nicht fertig. Sie begann aufzuzählen: «Wir in meiner Familie sind gebrannte Kinder. Zudem wurde mein gesamtes Gepäck bereits zwei Mal auf Reisen geklaut, und ich stand mit nichts ausser meinem Geld mehr da. Das Gepäck meines Vaters ging bereits zwei Mal verloren. Mittlerweile hatten wir schon so viel Pech, dass es statistisch gesehen gar nicht mehr möglich ist, dass jemandem aus unserer Familie das noch einmal passiert.» Ihre Behauptung untermauerte sie mit einem entschiedenen Kopfnicken. Damit hatte sie das Schicksal herausgefordert. Sie ist gegen das Schicksal in den Ring gestiegen. Sie hätte lieber den Mund halten sollen, denn das Schicksal kämpft mit harten Bandagen und unfairen Seitenhieben.
Im Flugzeug hatte ich den Fensterplatz für mich in Beschlag genommen. Von Zürich nach Amsterdam, und von dort weiter nach Bogotà. Natürlich hatte unsere Maschine in Amsterdam Verspätung, und obwohl wir alle bereits im Flugzeug sassen, mussten wir warten: das Gepäck musste noch fertig eingeladen werden. Der Vogel blieb weitere zwanzig Minuten auf dem Boden. Ich vertrieb mir die Langeweile mit Filmen. Konnte mich fast nicht entscheiden, und wählte dann einen Film mit einem meiner Lieblingsschauspieler (kommt ihr drauf?). Als ich meinen Blick gelangweilt aus dem Fenster gleiten liess, da sah ich plötzlich mein Gepäckstück dort liegen. Mir kam meine dumme Aussage morgens um vier in den Sinn, und ich begann im Stillen zu beten: «Einladen, ein-laden, EINLADEN!» Ich stiess Helen an und zeigte auf meinen fetten, vollgestopften Rucksack am Boden unter uns. Ein weiterer Gepäckwagen kam angerollt und lud die Gepäckstücke aufs Förderband, welches sie in den Bauch unserer KLM-Maschine beförderte. Nur meines und zwei weitere Backpacks blieben liegen. «Verdammt, was machen die bloss damit?», stiess ich jammernd hervor. Die Angst stieg. Was, wenn sie es plötzlich wieder auf den Wagen schmissen? Würden sie mich hören, wenn ich gegen das Fenster klopfte um ihnen klar zu machen, dass der dicke, fette, schwarze Rucksack auch ins Flugzeug gehörte? «Hast du meines auch gesehen?», wollte Helen wissen. «Nö…», sagte ich, «aber das ist bestimmt bereits drinnen!» Helen bestätigte nickend meine Annahme und wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu. Ich starrte weiter auf mein Gepäck und versuchte durch Telepathie den Flughafenmitarbeiter dazu zu bringen, ihn endlich auf das Band zu hieven. Er musste meine Gebete gehört haben, denn plötzlich packte er meinen Rucksack und warf ihn unsanft auf die Rampe. «He!», rief ich entrüstet aus, aber innerlich war ich froh, dass meine telepathischen Kräfte Wirkung gezeigt hatten. Er würde also mit uns fliegen, das Schicksal hatte mir meinen kleinen Ausrutscher von vorhin verziehen und war mir gütig gestimmt. Sehr schön. Ich liess mich erleichtert in meinen Sessel zurücksinken und dröhnte mich für den Rest des Fluges mit Filmen zu.
«Da ist deiner!», rief mir Helen zu, als wir zur Gepäckausgabe liefen. Tatsächlich, mein Rucksack kam bereits um die Ecke geschlittert. Bei seinem Anblick war ich bereits wieder versucht, ihn zu verwünschen, doch ich konnte den Gedanken rechtzeitig stoppen. Das Schicksal würde mir heute sicher nicht noch einmal gnädig sein. Also schluckte ich schwer und packte das noch viel schwerere Teil an seinen Henkeln und riss es schwungvoll vom Band. Vor lauter Schwung verlor ich beinahe das Gleichgewicht. Ich fluchte leise. Helen hielt weiter Ausschau nach ihrem türkisen Gepäckstück, während ich versuchte, mich irgendwie mit meinen tausend Sachen und Anhängsel zu arrangieren: zwei Jacken, ein Pulli, meine Spiegelreflexkamera, ein Tagesrucksack plus mein Backpack. Ganz schön viel Gepäck für eine stattliche Person von knapp 1.65 Metern Grösse und 50 Kilo Gewicht. Ich fluchte erneut. Doch alles Fluchen brachte nichts, ich hatte mir das selber eingebrockt. Plötzlich stellte das Band ab und die Leute verzogen sich. «Es kommt nichts mehr!», merkte Helen unnötigerweise an. «Warum nicht?», fragte ich doof. Wir blickten uns um. Zwei Männer hievten die letzten zwei Koffer vom Band und suchten nach ihren Besitzern. Am anderen Ende der Halle (die nicht besonders gross war, Cartagena ist ein vergleichsweise kleiner Flughafen) entdeckten wir zwei kolumbianische Mitarbeiterinnen der KLM, die bereits von einer kleinen, aber lauten Gruppe Frauen umringt war. Wir stiessen dazu, und Helen übersetzte mir, dass die grosse Frau, die so lautstark gestikulierend über die kleinere KLM-Mitarbeiterin herfiel, ihren Schal im Flugzeug vergessen hatte. «Wegen ihres dummen Schals führt die so ein Theater auf!», bemerkte Helen ungläubig und schüttelt genervt den Kopf. «Ich fasse es nicht, das kann ja nicht sein dass es wieder dich trifft?!», antworte ich. Helen fragte nach. Und tatsächlich: Ihr Koffer war in Amsterdam zurück geblieben. Sie sagte es mir und wir blickten uns an. Dann fingen wir lauthals an zu lachen. Die übrigen Opfer der Gepäckversäumungskatastrophe schauten uns verwirrt an, doch wir lachten einfach weiter. Was hätten wir sonst tun sollen? Das Schicksal sollte man besser nicht herausfordern, es ist eine Bitch. Es kämpft mit harten Bandagen und manchmal, ja manchmal erwischt es einen auch eiskalt und unerwartet von der Seite.
Sie bekam ihren Rucksack drei Tage später wieder. Mittlerweile waren wir beide jedoch so abgebrüht (ich hatte aus Solidarität genauso asketisch gelebt wie sie), dass sie ihn nicht mal mehr gebraucht hätte. Wir hatten beide gut von meinem Gepäck leben können, und nachdem sie ausgesprochen hatte, was wir beide dachten, fürchteten wir erneut den Groll des Schicksals. Doch es war gütig gestimmt, und trotz ihrer Aussage schien Helen schlussendlich dennoch erleichtert, als sie ihren zehn Kilo Handgepäck-Rucksack am Flughafen in Cartagena wieder in die Arme schliessen, und die Reise für uns endlich losgehen konnte.
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