Junglehike ciudad perdida, Kolumbien
- Restlesstraveller
- 2. Juli 2020
- 16 Min. Lesezeit
Vielleicht war das ein Zeichen? Trotz, oder vielleicht gerade weil wir einen konkreten Plan gehabt hatten, hatte sich das Schicksal wieder einmal eingemischt. Die Fahrt direkt nach Santa Marta war heute Morgen einfach annulliert worden. Man müsse den Bus reparieren, hiess es. Dania erklärte uns indessen, dass wir dann bis nach Santa Marta eben die lokalen Busse nehmen mussten. Sie sagte es, als wäre es ein Fluchwort, und ich bekam automatisch Panik. Ich stellte mir überquellende Busse vor, Menschen auf engstem Raum aneinandergepresst, Hitze, offene Türen, ein Bus, der praktisch auseinander fiel, so viele Menschen, so einfach, uns auszurauben. Mir graute davor, solch einen Bus zu benutzen. Mir graute davor, am Busbahnhof zu stehen, und keinen Anschlussbus mehr zu haben. Irgendwo zu stranden, mit meinem verdammt schweren, scheiss 17 Kilo Rucksack mit Muschelzusatz. Mein schlimmster Alptraum. Das Kopfkino ging gerade mit mir durch, als Helen mich erwartungsvoll anblickte. Sie schien sich das Ganze nicht so schlimm vorzustellen. «Nehmen wir halt die local busses, oder?», meinte sie locker. Ich zuckte zusammen. Das Kino ging weiter. Diese unvorstellbare Hitze! Das Adrenalin rauschte in meinen Ohren, ich war gestresst. «Aber es gibt keinen Fahrplan, wir wissen nicht, wohin, wie, wo, was…!», meinte ich, total unentspannt. «Laura, bleib locker, das wird schon!», meinte sie, total entspannt. Sie war angekommen, während ich mir fast in die Hosen machte. Heute weiss ich, dass ich damals noch weit davon entfernt war, angekommen zu sein. Noch weit davon entfernt, entspannt zu sein. Heute lache ich über meine anfängliche Kontrollsucht und die Angst davor, sie zu verlieren. Doch damals war das Ganze real. Die Vorstellung, in einem überfüllten, überhitzten Bus zu fahren und dabei unzählige Male umsteigen zu müssen, bis wir in Santa Marta wären, war einfach zu viel für mich. Das konnte ich nicht. Das schaffte ich nicht.

Ich liess mich dennoch überreden, als ein französisches Pärchen sich ebenfalls dazu entschloss, den lokalen Bus mit uns nach Santa Marta zu nehmen. So wären wir nicht nur zu zweit, sondern sogar zu viert. Das nahm mir ein wenig meine Bedenken und meine Angst. Anscheinend mussten wir bloss einmal umsteigen, und zwar in Cartagena. Wir packten also unsere Rucksäcke (ich erinnere, 17 Kilo plus Muschel!), und schleppten uns in der Hitze des Tages über den Strand zurück zum Ort, wo wir vor fünf Tagen vom Schrott-Taxi abgeladen worden waren. Fünfzehn Minuten Fussmarsch, und dieses Mal hatten wir keine nette Eskorte mehr, die unsere Rucksäcke für uns trugen! Dort, völlig verschwitzt und verdreckt angekommen, wurden wir bereits von einem Einheimischen erwartet, der uns über die Schotterpiste zurück nach San Onofre zum Busbahnhof fuhr. Dieses Mal war das Auto etwas vertrauenswürdiger, und es wartete im Dschungel kein Polizeitrupp mehr auf uns. Eine halbe Stunde später sassen wir bereits in unserem Bus nach Cartagena: der Bus hatte für jeden einen Sitzplatz und war klimatisiert. Ich fühlte mich lächerlich wegen des Theaters, das ich aufgeführt hatte. Wieso war ich überhaupt der Überzeugung gewesen, der Bus wäre mit Sicherheit überfüllt und nicht gekühlt? Bloss, weil wir in Kolumbien waren? Mann, war mir das peinlich. Und ich schwor mir, dass ich ab jetzt offener und gelassener sein würde bezüglich Reisen. Und ich habe mein Wort bis heute gehalten.
Wir schafften es bis nach Santa Marta, ohne ausgeraubt zu werden. Um genau zu sein, wir schafften es die gesamte Reise über ohne jegliche Zwischenfälle. Was eine absolut notwendige Erfahrung für mich war, denn anscheinend hatte ich eine unerklärliche und unermessliche Panik davor, dass solche Dinge schief gingen. Adios Urvertrauen. Aber je mehr ich die Erfahrung machte, dass es klappte, desto lockerer konnte ich werden. Und gegen Ende meiner Reise war ich sogar so weit, dass ich meine Unterkunft manchmal erst vor Ort buchte, geschweige denn Panik wegen lokalen Bussen kriegte. Wir erreichten unser Hostel in Santa Marta allerdings erst, als es bereits dunkel war, und verbrachten den Rest des Abends damit, unseren Tagesrucksack für den Dschungelhike nach Ciudad Perdida zu packen. Unser (also mein 17 Kilo Rucksack!) Backpack würde im Büro der Agentur zurück bleiben, mitnehmen sollten wir nur einen Tagesrucksack mit den nötigsten Sachen für vier Tage im Dschungel. Bloss, was bedeutete «das Nötigste»? Was brauchte man im Dschungel, was absolut nötig war? Ich entschied, dass mein Moskitospray absolut nötig war. Viele hatten berichtet, dass sie im Dschungel total zerstochen worden waren, und das sollte mir auf keinen Fall passieren. Ich gestehe offen ein, dass ich einige, etwas unkonventionelle aber auch sehr festgefahrene Ticks habe, wie zum Beispiel Panik vor Moskitostichen. Diese Panik wurde durch eine Freundin verstärkt, die just ein paar Wochen vor meiner Reise nach Kolumbien operiert worden war, weil sie von einem Mückenstich in Ecuador einen geschwollenen Knubbel an der Schulter gekriegt hatte, der sich auch noch entzündete. Nichts half, bis man die Ursache für die Entzündung entdeckte: eine Mücke hatte Eier unter ihrer Haut abgelegt. Eier der Dasselfliege. Die Eier waren geschlüpft, und die Maden hatten unter ihrer Haut weiter gelebt, und niemand merkte es, bis es sich entzündete, und es bereits zu spät war. Man musste operieren. Diese Fliege, die ihre Eier auf Mücken ablegt, existiert auch in Kolumbien. Ich wollte kein Risiko eingehen. NO MOSQUITOS! Der Spray musste mit! What else? Ich packte wenig Kleidung, lange Wanderhosen, zwei paar kurze Hosen, Flip Flops, um abends zu duschen, und drei Tshirts. Regenjacke wurde nach einer hitzigen Diskussion mit Helen wieder ausgepackt, sowie auch die Regenhosen. Nass würden wir sowieso werden, das war die Devise. Zwei Paar Socken. Ein Sonnenhut, und dann noch Zahnbürste, Shampoo und Sonnencreme. Mein kleines Taschentagebuch. Kamera? Zu schwer, nur das Natel konnte mit. Ein Ladekabel mit Powerbank. Und das wars dann auch schon. Der Rucksack war bereits voll.

Am nächsten Morgen begaben wir uns verfrüht zum Büro der Reiseagentur, die uns durch den dicht bewaldeten Dschungel bis zur Verlorenen Stadt begleiten sollte. Man stellte uns unsere zwei Guides für die Woche vor: Gabriel und Omar. Unsere Wandergruppe war ein bunter Mix aus Deutschen, Holländerinnen, einem Iren und einer Griechin, einer Amerikanerin und einem Argentinier. Und uns. Mehrheitlich Pärchen. Ein kurzes Briefing wurde abgehalten, bevor wir uns in zwei Jeeps aufteilten und die dreistündige Fahrt in den Dschungel starteten. Die Fahrt war ziemlich holprig, und bereits hier wurde den ersten Mitfahrerinnen schlecht. Als wir ins letzte befahrbare Dorf vor dem Trek einfuhren, kamen uns bereits die ersten Wanderer entgegen. Sie alle sahen abgekämpft, durchgeschwitzt und erschöpft aus – aber glücklich. Die hatten den Trek gemeistert und waren zurückgekehrt. Die Busse, die sie abholen sollten, standen bereits zahlreich am Strassenrand geparkt bereit. Ich war zwar noch nie auf dem Jakobsweg gewesen, doch genau so stellte ich es mir vor. Wir assen in einem Restaurant noch eine stärkende Mahlzeit, bevor es endlich losging. Das Essen war typisch kolumbianisch: Reis mit Fleisch und Linsen. Ich bekam statt Fleisch ein paar geschmacklose Salatblätter auf dem Teller serviert. Während wir assen, wurden wir von den flehenden Augen der zahlreichen streunenden Hunden beobachtet. Sie setzten sich zu uns und sahen uns bettelnd zu. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt. Und die Streuner hier waren wohl eher so was wie Haustiere, bloss freier. Sie gehörten zum Dorf, und jeder kümmerte sich mal wieder um sie, indem sie ihnen ihre Essensreste gaben. Aber niemand ging mit ihnen Gassi. Sie gestalteten sich ihre Tage vorwiegend selbst. Und so kam es, dass sich die (sie musste erst gerade Junge gehabt haben, denn ihre Zitzen am Bauch waren geschwollen und gerötet) Hündin, die sich zu meinen Füssen hingelegt hatte, dazu entschied, uns ein stückweit zu begleiten. Denn als es losging, folgte sie uns. Sie folgte erst Gabriel, unserem Guide, und ich ging davon aus, dass sie vielleicht die ersten paar Minuten, höchstens vielleicht einen Kilometer mitkommen würde. Danach würde sie umkehren und nach Hause laufen. Doch ich täuschte mich. Auch nach ein, zwei Stunden war sie immer noch mit von der Partie. Die erste Etappe war wahnsinnig mühselig, und die Schlimmste der ganzen Wanderung: wir waren noch nicht richtig im Dschungel, und deshalb der vollen Wucht der gleissenden Mittagssonne ausgesetzt. So liefen wir bei fast vierzig Grad einen kleineren Berg hoch: ohne Schatten und Schutz. Ich war noch keine zehn Minuten gelaufen, als ich am Wegrand einen hölzernen Stock entdeckte. Einen perfekten Wanderstock! Ich war mir sicher, dass die Person, die den Stock benutzt hatte, ihn auf dem Rückweg hier gelassen hatte, weil sie ihn am Ende der Wanderung ja nicht mehr brauchte. Wahrscheinlich machte man das hier so, und so konnten wir von den vorherigen profitieren, ein ziemlich nachhaltiges System. Ich nahm den Stock dankbar an mich, und merkte rasch, dass er das Laufen erheblich erleichterte. Bald hatte ich mich so an den Stock gewöhnt, dass ich mich nirgends mehr ohne ihn hinbewegte. Alle halbe Stunden wurde Pause gemacht, und an den Orten hatten sich einige Einheimische mit Kühltruhen eingerichtet und verkauften kostbar kühles Wasser. Natürlich ging die Rechnung voll auf: ich hatte meinen Liter bereits nach der ersten Steigung leer getrunken, und brauchte Nachschub. Alle von uns waren bereits vollkommen durchgeschwitzt, und lechzten mit hochroten Köpfen nach Flüssigkeit für ihren staubtrockenen Rachen.

Dann gings weiter, stetig, sehr langsam, immer bergauf. Ich konnte anhand der anderen Gesichter erkennen, dass die meisten ernüchtert waren über den etwas unpopulären Beginn unserer Reise. Was, wenn das die ganzen nächsten vier Tage so weiterging? Ich wusste nicht, ob ich das durchhalten würde. Wir wanderten für vier lange Stunden bergauf, unter härtesten Bedingungen. Die Gruppe zerteilte sich immer mehr, die Schnellen zogen bald davon, die Langsameren fielen immer weiter zurück. Es begannen sich Grüppchen zu bilden, und irgendwann Einzelkämpfer. Ich bewegte mich ziemlich in der Mitte, Helen war voraus gezogen. Bergauf lag ihr mehr als mir. Die nächsten lagen weit hinter mir zurück, und so kam es, dass ich für mich alleine lief. Das störte mich nicht sonderlich, denn die Hitze und bergauf zu laufen benötigte gerade meine ganze Aufmerksamkeit und Energie. Mir war nicht nach Reden. Doch als ich um eine Ecke kam, sass da plötzlich die Hündin vom Mittagessen. «Na du, musst du nicht nach Haus zu deinen Kleinen?», wollte ich von ihr wissen. Sie blickte mich bloss freundlich an und setzte sich in Bewegung, sobald ich an ihr vorbei gelaufen war. Sie verfiel in einen leichten Trott, manchmal etwas voraus, manchmal neben mir. Manchmal liess sie sich ein wenig zurückfallen, doch sie kam immer wieder zurück. Ihr fiel das Laufen leichter als mir, und doch hechelte auch sie eifrig und ich fragte mich, ob das für eine Hündin, die gerade erst Junge gekriegt hatte, wirklich gesund war. Doch es war ihre Entscheidung, und sie schien es zu geniessen, uns eine Weile zu begleiten. Sie blieb für die nächsten paar Stunden an meiner Seite, und ich entschied mich nach einer Weile dazu, ihr einen Namen zu geben. Meine Wahl fiel auf «Chiquita». Schweigend kämpften wir uns weiter, und nach knapp dreieinhalb Stunden gelangten wir endlich auf den Bergkamm, von wo aus wir unsere erste atemberaubende Sicht auf den Dschungel hatten. Nach einer weiteren kurzen Pause gings von da an geradeaus, und ich war von nun an weiter vorne unterwegs. Schnell hatte sich unsere Gruppe wieder verteilt, und Chiquita und ich waren wieder allein. Zwischendurch kamen uns immer wieder Einheimische entgegen oder aber überholten uns. Sie führten Kolonnen von Maultieren an, alle mit einem Strick miteinander verbunden. Die Maultiere waren ihre Lasttiere, und sie schleppten Satteltaschen voll mit Lebensmitteln und Wasser, die sie zu den Camps mitten im Dschungel bringen mussten. Wo für uns gekocht und zubereitet wurde, um uns auf unserer Reise angemessen zu verpflegen. Nach einer weiteren Stunde ging es noch für kurze Zeit bergab Richtung Tal. Als wir in eine kleine Siedlung an einem Fluss kamen, hatte mich Helen eingeholt, und wir liefen die letzten Meter gemeinsam. Wir hatten uns schon gefreut, am Ziel zu sein, doch unsere Guides enttäuschten unsere Hoffnungen: unser Camp lag noch ein wenig weiter im Dschungel, dieses Camp war für andere Gruppen. Wir mussten noch ungefähr 40 Minuten laufen.
Doch auch die schafften wir, Chiquita noch immer an unserer Seite. Dann endlich hatten wir den ersten Tag geschafft, und kamen erschöpft im Camp an. Es verfügte sogar über Duschen, und da ich mein Ökoshampoo dabei hatte, musste ich auch kein schlechtes Gewissen dabei haben, mich mit dem Flusswasser des Dschungels zu waschen. Es war bereits spät geworden, und nach dem Duschen gab es dann auch bereits Abendessen. Wir alle waren ziemlich erschöpft nach den Strapazen des ersten Tages, sodass nach dem Essen bald alle ihre Bunkbeds aufsuchten in der offenen Unterkunft. Es war ein spezielles Gefühl, so ungeschützt mitten im Dschungel zu übernachten. Uns wurde eingeschärft, immer unsere Taschenlampen mitzunehmen, wenn wir das Bett nachts verliessen, und erst in unseren Schuhen nachschauten, bevor wir reinschlüpften, nicht, dass uns etwas Giftiges stach. Und wir sollten unsere Wertsachen zu uns ins Bett nehmen, sowie Esswaren, damit keine wilden Tiere angelockt wurden. Das Bett war von einem schützenden Moskitonetz umgeben, und nachdem ich mich trotzdem zur Sicherheit noch einmal vollends mit Moskitospray eingesprüht hatte, legte ich mich schlafen. Das Zirpen der Grillen und die gelegentlichen Zwischenschreie der Affen wurden schwächer, als ich allmählich in den ersehnten Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen ging es früh weiter: um sechs Uhr gingen die Lichter an und unsere Guides marschierten, lauthals singend, durch die Gänge des Massenschlags, um uns aufzuwecken. Ich hatte erwartet, dass ich Muskelkater hätte, aber ich fühlte mich einfach nur müde. Nach dem Frühstück hiess es: zurück in die Wanderschuhe schlüpfen und weiter geht’s! Einige hatten für den Treck ganz einfache Nike Turnschuhe, und eine lief sogar in Hotpants aus Jeans. Doch es kamen im Verlauf des Tages Schlammlöcher, Flüsse und andere Hindernisse, die wir überwinden mussten, und ich war froh, hatte ich meine Wanderschuhe eingepackt. Chiquita war immer noch mit von der Partie, und ich hatte mich bereits an sie gewöhnt. Der heutige Tag war lang: wir waren insgesamt neun Stunden unterwegs bis zur nächsten Schlafstätte. Mittags kamen wir an dem Camp vorbei, wo wir am letzten Tag übernachten würden. Heute allerdings assen wir dort zu Mittag. Das Camp lag direkt an einem Fluss, und so konnten wir über die Mittagspause in unsere Badesachen wechseln und uns kurz im kühlen Fluss etwas erfrischen. Irgendwann hatten wir uns alle einen Stein gesucht und lagen wie tote Fliegen auf den Steinen herum. Ich nutzte die Pause dankbar, um ein kurzes Nickerchen zu machen. Danach ging es weiter. Plötzlich bemerkte ich, dass Chiquita nicht mehr bei mir war. Ich musste nicht nach ihr rufen, ich wusste augenblicklich, dass sie sich auf den Nachhauseweg gemacht hatte. Etwas schmerzlich wandte ich mich ab und lief weiter. Stundenlang laufen, durch den Dschungel, das hatte schon etwas Besonderes. Vor allem, wenn man für sich alleine lief. Spiritualität war nicht unbedingt meine Stärke, doch hier, so in der Natur zu sein… wenn ich an etwas glauben konnte, dann daran. So viel Zeit zum Nachdenken. So viel Zeit, um zu jammern, um immer wieder über sich hinaus zu wachsen und weiter zu gehen. So viel Zeit, um zu beobachten, genau wahrzunehmen. Da fielen einem die banalsten Dinge auf, die plötzlich wichtig erschienen und die ganze Aufmerksamkeit in Beschlag nahmen. Wie zum Beispiel die Dschungelameisen, und welch, im Verhältnis zu ihrer Körpergrösse, riesige Blattschnipsel sie mit sich rumschleppen. Die Geräusche des Waldes, das Zirpen, grillen, rauschen.. fast meditativ setzte ich irgendwann einfach einen Fuss vor den anderen, ich lief einfach immer weiter und weiter. Irgendwann spürte ich die Müdigkeit nicht mehr, die Erschöpfung, die Anstrengung. Irgendwann schienen jegliche Probleme, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, unwirklich und fern. Hier in der Wildnis fühlte ich mich mit mir im Reinen, friedlich, voller Kraft und Energie. Hier konnte meine Seele auftanken.
Nach neun Stunden Wanderung erreichten wir Camp Nummer 3, wo wir auch die Nacht verbrachten. Sie war dreckiger und verwahrloster als die erste, aber man musste auch anmerken, dass es schwieriger war, Utensilien hierher zu transportieren, da wir wirklich mitten im Dschungel waren. Hier lebten noch einige indigene Völker der Kogui, Wiwa, Arwuakos und Kankuamos. Sie waren meistens in ganz traditionell weissen Gewändern gekleidet, die wie Jutensäcke an ihnen runterhingen. Frauen so wie Männer trugen ihre schwarzen Haare lang. Sie liefen in Flip Flops oder gar barfuss durch den Dschungel. Wir begegneten ihnen meistens auf den Pfaden, wenn sie mit ihren Maultieren unterwegs ins nächstgelegene Dorf waren, um lebenswichtige Dinge zu holen oder aber jemand ins Krankenhaus musste. Die Gesundheitskosten fürs Spital, so erzählte uns unser Guide, war für die Indigenen vom Staat getragen und somit gratis. Sie mussten allerdings sehr viel Aufwand betreiben, um bis in die nächstgrössere Stadt mit Krankenhaus zu kommen, weshalb man solch eine Reise wirklich nur unternahm, wenn es um Leben und Tod ging.
Wir erreichten das letzte Camp vor der lost City kurz bevor es dunkel wurde. Es gab ein reichhaltiges Abendessen, und einige aus der Gruppe spielten noch eine Weile Karten, bevor wir uns alle Schlafen legten. Am nächsten Morgen ging es wieder früh los, um die über 2000 steinernen Treppen hoch zur Ciudad Perdida zu erklimmen. Wir mussten zuerst drei Viertelstunden laufen, bis wir zu den Treppen kamen. Die Treppen hochzusteigen dauerte jedoch weitaus weniger lang als erwartet. Nach einer halben Stunde kamen wir bereits oben an. Es war wieder schwül und feucht, und so waren wir alle bereits nass geschwitzt, als wir beim Eingang der Stadt oben ankamen. Dann gaben uns unsere Guides eine kurze Geschichtsstunde zu der Verlorenen Stadt mitten im Dschungel.

780 Jahre nach Christi Geburt kamen die sogenannten Tayronas in diese Gebiete. Sie stammten ursprünglich aus Zentralamerika, doch als Halbnomaden suchten sie sich immer mal wieder neue Gebiete, in denen sie sich ansiedeln konnten. Da sie hier im Tayrona National Park alles fanden, was sie zum Überleben brauchten, entschieden sie sich dazu, hier an der Karibik Küste um Santa Marta rum zu bleiben. Es gab bereits andere indigene Völker, doch man lebte grösstenteils friedlich miteinander. Als die Spanier kamen, änderte sich dieser Zustand allerdings drastisch. Es gab viele Unruhe und Kämpfe, und obwohl die Spanier anfangs verloren und zurückgedrängt wurden, kamen sie mit einer neuen Strategie zurück, die ihnen den Gewinn bescheren sollte: mit lauter Dingen, die die Einheimischen zuvor noch nie gesehen hatten. Die Spanier brachten zum Beispiel Spiegel, die sie tauschen wollten. Die Einheimischen tauschten eifrig, doch den Spaniern reichte das nicht. Sie wollten den Goldreichtum der Einheimischen ganz für sich beanspruchen, und so begannen sie, systematisch zu töten und zu vergewaltigen. Die Einheimischen, die geplündert und missbraucht wurden, begannen, immer mehr auch Krankheiten zum Opfer zu fallen, die es vorher hier nie gegeben hatte. Krankheiten, die die Spanier miteingeschleppt hatten. So kam es auch, dass man versuchte, sich in die Berge und den Dschungel zurück zu ziehen und dahin zu flüchten, nichtsahnend, dass die Krankheiten ansteckend waren, und viele sie bereits in sich trugen. Nach und nach erkrankten immer mehr, und man fand keinen Weg, die Krankheiten zu behandeln oder gar zu heilen. Als bereits viele gestorben und von den Krankheiten dahingerafft worden waren, verliess der Rest fluchtartig die Stadt im Dschungel, im festen Glauben, dass sie verflucht sei. Sie geriet in Vergessenheit, und der Dschungel gewann sie nach und nach für sich zurück. Die Häuser zerfielen, und alles was übrig blieb und heute noch von der Siedlung zeugt, sind die kreisförmigen Ringe aus Stein, die mittlerweile von Gras bewachsen sind. In diesen Ringen standen früher die Häuser der Einheimischen. Der Kreis war für sie damals heilig und stand für die Sonne, welches ihrer Meinung nach der Vater aller Menschen war, während die Erde und Natur die Mutter darstellte.

Die Stadt wurde erst viele Jahre später wiederentdeckt. Ein Vater und sein Sohn aus der Dschungelsiedlung Minca entdeckten die Stadt bei einer Wanderung durch die Berge. Damals war das Werk von Grabräubern gang und gäbe, und so stahlen die zwei die Schätze in der verlorenen Stadt, um sie in Santa Marta teuer zu verkaufen. Sie prahlten mit ihren Funden so sehr, dass sich bald Wort darüber verbreitete, und sich immer mehr Schatzräuber auf die Suche nach dieser Stadt machten, um damit das grosse Geld zu verdienen. Bald jedoch artete die Situation komplett aus: es gab Kämpfe unter den Räubern und Morde. Deshalb entschied sich einer dieser Leute dazu, den Staat einzuschalten.
1976 hat der Staat Kolumbiens erstmals offizielle Archäologen dahin geschickt, um die Stadt zu erkunden. Im Jahre 1984, 8 Jahre später, fand bereits der erste Tourist seinen Weg dorthin. Und in den Jahren seither ist das touristische Interesse an der Stadt stetig gestiegen. Während es zu Beginn noch eine einzige Firma war, die begleitete Touren zur Stadt anbot, sind es mittlerweile sechs verschiedene Unternehmen! Die Gruppengrössen variieren mittlerweile zwischen 5-20 Leute, je nach Unternehmen. Ich war mit expotur dort. Das einzige, was ich bei dieser Tour bemängle, ist die Gruppengrösse: wir waren mit 16 Leuten die mit Abstand grösste Gruppe, die im Dschungel zu dem Zeitpunkt unterwegs war. Die meisten anderen Gruppen waren kleiner, was ich persönlich bevorzugt hätte. Aber ansonsten ist diese Tourcompany empfehlenswert!

Nachdem wir die Stadt nach und nach erkundet und Fotos geschossen hatte (man höre und staune, selbst hier im tiefsten Dschungel hatten sich wieder einige Einheimische in die Nähe der Stadt angesiedelt mit ihren Hunden und Katzen und Vieh, sowie einem Schamanen, und selbst hier waren zwei Männer des offiziellen Militärs präsent!), ging die Tour weiter zu einer Hütte, die exemplarisch wieder aufgebaut worden war. Noch dazu wurde auf einer Tafel beschildert und beschrieben, wie die Hütte innen ausgesehen und genutzt worden war. Ganz spannend fand ich dabei die Tatsache, dass man Tote unter den Hütten aufbewahrt hat! Bei den Einheimischen war es Brauch, dass man den toten Körper eines Angehörigen erst in Fötusposition in der Nähe des Hauses in eine Grube legte. Man versorgte die Person mit Wasser und Nahrung, weil in ihrem Glauben die Person sich jetzt auf eine lange Reise begeben hatte, auf der er oder sie natürlich Wasser und genug Nahrung brauchte, um die Reise bestehen zu können. Als Symbol für die Reise wurde eine Vase aufgestellt. Fand man die Vase eines Tages zerbrochen vor, so hiess das, dass die tote Person von ihrer Reise zurückgekehrt war. Dann wurde es Zeit, dass der Körper aus der Grube geholt und unter dem eigenen Haus begraben wurde. Oftmals wurden der Person wertvolle Schmuckstücke und Gold mitgegeben, um sicherzustellen, dass es ihr im Jenseits gut gehen würde. Weshalb es später auch für Schatzräuber so attraktiv war, Gräber auszurauben. Doch das Spannende kommt jetzt: nachdem die tote Person unter dem Haus begraben worden war, musste die Familie ausziehen, denn das Haus gehörte jetzt dem/r Toten. Man musste zu einer anderen Familie ziehen, bis das alte Haus von sich aus in sich zusammenfiel: erst dann durften sie an einem neuen Ort ein neues Heim für sich aufbauen.

Mittags wurde es dann für uns leider bereits wieder Zeit, ins Camp zurück zu kehren. Bevor es zurück zum 2. Camp ging, kriegten wir noch ein stärkendes Mittagessen aufgetischt. Danach dauerte der Hike zurück zum Ort, der am Fluss lag, ungefähr noch fünf Stunden. Kaum waren wir im Lager angekommen, wurde es dunkel, und es begann das erste Mal seit wir unterwegs waren, in Strömen zu regnen. Ich konnte meine Sachen gerade noch rechtzeitig von der Wäscheleine holen, wo sie zum Trocknen aufgehängt worden waren. Ein grosszügiges Abendessen mit Suppe, Reis, Linsen und ein wenig Gemüse stopfte nochmals richtig gut und versorgte uns mit wichtiger Energie, die wir für den morgigen Tag, wenn es zurück zum Anfangspunkt ging, brauchen würden.
Der letzte Tag verging wie im Traum. Obwohl es nochmals um die neun Stunden Wanderung waren, lief ich mittlerweile völlig automatisch und wie in Trance. Ich erinnerte mich daran, wie mir eine Wanderin, die gerade vom Trek gekommen war, mir an meinem ersten Tag gesagt hatte: «Als ich um die Ecke kam und die Instruktionstafel sah, an der wir am ersten Tag begonnen hatten, da musste ich vor Freude und Erleichterung weinen.» Ich hatte das äusserst interessant gefunden, dass eine gestandene Frau beim Anblick einer Tafel hatte weinen müssen, doch nun, auf dem Rückweg, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Ich erwartete die Tafel sehnsüchtig, und als sie dann endlich vor mir auftauchte, da brach auch ich in Tränen aus. Danach waren es von dort nochmal ungefähr 15 Minuten, die ich praktisch rennend zurücklegte. Ich kam als fünfte im Restaurant an, wo wir an unserem ersten Tag gegessen und danach von dort unsere Tour gestartet hatten. Die anderen, die bereits da waren, gratulierten mir und wir fielen einander glücklich in die Arme. So etwas zusammen durchzustehen verbindet unweigerlich. Wir warteten auf die restlichen Teilnehmer unserer Gruppe, und einer nach dem anderen trudelten sie ein, ein jeder den Ausdruck der Erschöpfung auf dem Gesicht, trotzdem umspielte ein seeliges Lächeln ihre Lippen. Alle wurden wir gebührend mit Applaus und Gejohle empfangen, in die Arme geschlossen und gratuliert. Wir hatten es geschafft! Was für ein Erlebnis!
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