Teil 2: Willkommen im Norden
- Restlesstraveller
- 13. Jan. 2018
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Jan. 2018

Zurück zum verhängnisvollen Sturm. Ich war mittlerweile auf meiner Farm etwas östlich von Varmahlíð angekommen. Varmahlíð ist ein kleiner Ort in der isländischen Gemeinde Skagafjörður mit 119 Einwohnern. Die Farm, auf der ich mich vorübergehend einquartierte, wird von Heitha und ihrer Mutter geführt. Auf der Farm leben 200 Schafe und 50 Islandpferde, vier Hunde, eine Katze und elf Hühner. Ich teilte ein Zimmer mit einer Deutschen, die wie ich für ihre Mithilfe bei der Stallarbeit Kost und Logis erhielt. Unsere Aufgabe bestand vor allem darin, uns um die Schafe im Stall zu kümmern, und sie zwei Mal täglich zu füttern. Die Pferde lebten momentan Tag und Nacht bei Wind und Wetter draussen auf der Weide. Die Islandpferde waren mit ihrem dicken Fell für Islands unvorhersehbare Wetterwechsel bestens ausgerüstet. Die alten, schwachen oder etwas angeschlagenen Schafe hatte man im Stall einquartiert. Der Rest der Herde befand sich allerdings auch draussen auf einer Weide. Und mitten auf dieser Schafsweide stand ein altes Haus. Die Türen sowie die Fenster waren aus den Angeln genommen worden, sodass die Schafe darin mühelos Schutz suchen konnten. So wie sie es auch vor dem Schneesturm taten. Doch leider hatten die Schafe den isländischen Wind unterschätzt. Er trug den Schnee durch jegliche Öffnungen hinein ins behagliche Innere des Hauses. Schnell verwandelte sich der Unterschlupf in eine tödliche Falle. Bevor die Schafe wussten, wie ihnen geschah, war das Haus bis unter die Decke mit Schnee gefüllt, und sämtliche Eingänge verschüttet. Es gab kein herein- oder herauskommen mehr. Sie waren lebendig begraben unter den Schneemassen.

Wir bekamen von alldem nichts mit, stand unser Hof doch mehrere hundert Meter unterhalb. Und auch wir verliessen die gemütliche Stube nur, wenn wir wirklich mussten. Denn der eisige Wind peitschte einem den Schnee ohne Gnade ins ungeschützte Gesicht, bis man es nicht mehr spürte. Eines Tages entschied sich Heitha in einer Art Kamikazeaktion dazu, sich durch den metertiefen Schnee den Hügel zur Schafsweide hoch zu kämpfen, um nach ihren Schützlingen zu sehen. Ihren Angaben zu Folge hatte es einen solch langen und heftigen Schneesturm mit so viel Schnee seit bald zwanzig Jahren nicht mehr gegeben! Sie erreichte die Hütte keine Sekunde zu früh: das Haus war verschüttet, und schnell hatte sie realisiert, dass sich darin noch Schafe befanden. Die Lage war äusserst prekär. Sie versicherte uns zwar, dass die Schafe nicht erfrieren konnten, dennoch waren sie vom Schnee so zugedeckt, dass sie so entweder erstickt und früher oder später verhungert wären. Wir mussten also handeln. Wir beluden uns mit Schaufeln und machten uns alle vier auf den beschwerlichen Weg hinauf zur Hütte. Wir hatten nicht nur mit dem schneidenden, eisigen Wind, sondern auch mit dem tiefen Neuschnee zu kämpfen. Als wir endlich oben ankamen war ich bereits völlig ausser Atem. Zu unserem Leidwesen entschied sich da der Sturm dazu, seinen Höhepunkt zu erreichen. Wir gruben und gruben, doch es gab fast kein Vorwärtskommen. Der Sturm wirbelte uns den Schnee regelrecht um die Ohren, und auch wir sahen bald aus wie eingeschneite Schneemänner. Die Kälte drang in jeden Spalt, und um Energie zu sparen, schnitt der Körper zuallererst die Enden der Extremitäten von der Wärmeversorgung ab. Alles, was am Weitesten vom Körper entfernt lag, gefror. Nach kurzer Zeit spürte ich meine Finger nicht mehr, bald darauf meine Zehen. Irgendwann hatten wir es geschafft, ein Loch unter das Dach zu buddeln und einen schmalen Weg freizulegen. Wir konnten von da aus fünf Schafe in der Hütte ausmachen. Alle steckten fest. Da ich die Kleinste war, wurde ich voraus geschickt. Ich quetschte mich in die schmale Öffnung und kroch vorwärts. Zwischen Dach und Schnee gepresst, versuchte ich nicht in Panik zu verfallen. Wäre das Dach eingebrochen, hätte es mich unter sich begraben. Wären die Schafe durchgedreht, hätten die nur ins Freie gelangen können, indem sie mich über den Haufen gerannt hätten. Es gab nur einen Ein-und Ausgang, und den blockierte ich. Ich hätte keine Chance gehabt rechtzeitig umzudrehen, denn ich konnte mich nur vorwärts bewegen. Oder rückwärts zurück schieben, wofür es aber zu spät gewesen wäre. Entschlossen schob ich die Gedanken an solche Schreckensszenarien weg und konzentrierte mich wieder auf die Schafe vor mir. Ich konnte drei erkennen. Eins wandte mir den Rücken zu. Heitha wies mich an, entweder den Kopf oder die Beine zu packen und es rauszuziehen. Ich kriegte ein Bein zu fassen, doch das Schaf zuckte heftig zusammen und riss das Bein fort. Ich versuchte es erneut, kriegte dieses Mal beide Beine zu fassen und wurde heftig durchgeschüttelt: das Schaf versuchte mit aller Macht, freizukommen. Unter grösster Anstrengung hielt ich es mit eisernem Griff fest und versuchte gleichzeitig, rückwärts aus dem Loch zu robben. Das Schaf wehrte sich noch immer, doch ich war stärker. Ich riss und zog mich aller Kraft. Ganz langsam bewegten wir uns rückwärts zum Ausgang. Als ich mit meinem Körper bereits draussen war und das Schaf noch drinnen, versuchte ich mich aufzusetzen, um eine bessere Kontrolle auszuüben. Doch das Schaf hatte andere Pläne. Entsetzt und mit letzter Kraft schlug es aus und stiess sich gleichzeitig vorn mit den Beinen vom Schnee ab. Ich fiel rückwärts und schlitterte mitsamt dem Schaf den Hang runter. Als ich sicher war, dass auch das Schaf nun aus der Hütte draussen war, liess ich seine Beine los und betete inständig, es möge mich nicht über den Haufen rennen. Zitternd, mit vor Schreck weit geöffneten Augen kam es auf die Beine, drehte sich blitzschnell um und rannte blindlings an mir vorbei. Hinter ihm folgten erschrocken die anderen zwei Schafe. Eines erwischte mich am Bein, da ich genau in seinem Fluchtweg lag. Doch das war nicht der Rede wert, überkam mich jetzt doch ein Hochgefühl darüber, diese drei Schafe befreit zu haben. Sollten da morgen nur ein paar blaue Flecken von meiner Heldentat zeugen! Ich raffte mich auf und machte mich daran, das nächste verschüttete Schaf auf der anderen Seite zu erreichen. Wir kriegten insgesamt noch fünf weitere Schafe frei, bis ich zum letzten Mal in die Hütte geschickt wurde. Laut Heitha war darin noch ein letztes gefangen. Anfangs konnte ich nichts erkennen. Erst, als sie es von draussen mit der Schaufel durch eine kleine Ritze anstiess, sah ich, dass sich etwas bewegte. Ich kramte die Schaufel nach vorne und versuchte im Liegen zu graben. Was sich als äusserst schwierig herausstellte, denn wo sollte ich mit dem Schnee hin? Ich musste damit jeweils zurück robben und die ganze Sache vor die Hütte kippen, nur um dann wieder rein zu kriechen und das Ganze zu wiederholen. Das dauerte wahnsinnig lange, doch irgendwann stiess ich auf Widerstand, etwas weiches: das musste das Schaf sein! Und erschrak: es war gänzlich eingegraben, nur die Schnauze und ein paar ängstliche Augen lugten aus dem Schnee. Ich schaffte es, den Oberkörper und den Kopf frei zu kriegen. Das Schaf besass nur noch ein Horn. Ich packte es und versuchte verzweifelt, das Schaf aus dem Schlamassel zu befreien. Ich zog mit aller Kraft, doch es bewegte sich keinen Millimeter. Es machte auch keinerlei Anstalten, mich irgendwie zu unterstützen. Wie tot lag es im Schnee und bewegte sich nicht. Immer wieder fürchtete ich, dass es tatsächlich gestorben war, doch dann blinzelte ein Auge oder ein Ohr zuckte, und ich wusste, dass es noch lebte. Ich versuchte, meine Position zu ändern, damit ich mehr Kraft investieren konnte. Also stiess ich mich hart an der Hauswand ab, und krachte dabei gegen einen Pfosten. Etwas in meinem Nacken knackte, und ich zuckte zusammen. Lähmender Schmerz durchfuhr mich wie ein Blitzschlag. Eisige Angst befiel mich. Hatte ich mir gerade einen Halswirbel gebrochen? Als ich versuchte, den Kopf zu drehen, durchzuckte ein erneuter, stechender Schmerz meinen ganzen Körper. Mir wurde übel, und alles begann sich zu drehen vor lauter Schmerzen. Ich begann zu zittern, und Panik überkam mich. Ich konnte meinen Kopf nicht mehr bewegen! War ich gelähmt? Und da wurde ich wütend. Wie bescheuert war das denn? Wer kriegte so was hin, sich beim Versuch ein Schaf zu retten selbst zu lähmen? Das Zittern und der Schmerz wurde immer heftiger. Ich lag wie erstarrt im Schnee und schloss die Augen. Merkte, wie ich drohte, vor Schmerz das Bewusstsein zu verlieren. Was nun? Ich spürte das Adrenalin in meinem Körper, und hoffte, dass es den Schmerz bald dämpfen würde. Ich versuchte den Kopf anzuheben, doch bei jeder noch so kleinen Bewegung durchzuckte der Schmerz mich wie ein Blitz. Nach einer Weile gab ich frustriert auf und kämpfte mich stöhnend aus dem Loch zurück in die Freiheit. Meine deutsche Arbeitspartnerin übernahm für mich, während ich mich neben die Hütte in den Windschatten stellte. Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper und die Schmerzen waren so schlimm, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Mein Kopf war seltsam nach rechts verdreht und dort eingerastet. Ich zitterte unaufhörlich, wohl eher vom Schock als vor Kälte. Bald darauf sah sich Heitha dazu gezwungen, die Rettungsaktion abzubrechen. Der Sturm war zu stark geworden und wir konnten momentan nicht mehr für das Schaf tun. Es war zu schwach. Heitha beruhigte uns damit, dass wir es wieder probieren würden, sobald der Sturm sich gelegt hätte. Zurück im Haus schrie ich unter Schmerzen, als die anderen mich aus meinen Kleidern befreiten. So etwas hatte ich noch nie erlebt, und noch immer konnte ich meinen Kopf nicht bewegen. Heitha verbrachte die nächste halbe Stunde damit, meinen Nacken zu massieren und die Muskeln zu lockern, während Kim, die Deutsche Helferin, mir Tee machte. Man setzte mich ins Wohnzimmer auf die Couch und deckte mich mit einer elektronischen Wärmedecke zu, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Ich konnte meinen Kopf selbst nur unter starken Schmerzen stützen, also bekam ich ein Wärmekissen um den Nacken herumgewickelt, und das half allmählich. So sass ich dann drei Stunden da, starrte an die Wand und rührte mich nicht. Erst danach schaffte ich es allmählich, den Kopf unter wahnsinnigen Schmerzen wieder geradeaus zu richten. Doch nach links ging gar nichts. Die nächsten Tage wurde das Wärmekissen zu meinem treuen Begleiter, während ich merkte, dass sich die Blockade und die Muskeln im Nacken allmählich lösten. Erst nach einer Woche war ich allerdings wieder im Stande, den Kopf fast schmerzfrei und ohne Einschränkungen bewegen zu können.

Die «Ein-Horn-Lady», wie ich das verschüttete Schaf nannte, plus drei weitere Schafe befreiten wir ein paar Tage später aus der Hütte. Ein-Horn-Lady mussten wir nach der Bergung allerdings mit dem Schlitten abholen, weil sie nicht mehr laufen konnte. Wir bugsierten die vier unterkühlten Schafe in den Schafsstall zu den anderen Havarierten, während wir die restliche Herde in einen Aussenstall trieben. Ich besuchte das verletzte Schaf jeden Tag. Lange war ich mir nicht sicher, ob es je wieder gehen würde, doch nach dem vierten Tag stand es endlich wieder auf den eigenen, wackeligen Beinen und bewies uns somit, dass es das Schlimmste überstanden hatte.

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