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Rettet das Schweizer-Volksbrauchtum! – Eine Ode an die Schweiz

  • Autorenbild: Restlesstraveller
    Restlesstraveller
  • 4. Feb. 2018
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Feb. 2020

Vor zwei Jahren sah ich im Fernsehen einen Beitrag zum Silvester in Urnäsch und entschied mich darauf hin kurzerhand, diesem Brauch einmal beizuwohnen. Am 13. Januar 2018 war es dann so weit: Nachdem eine Grippewelle uns am Neuen Silvester einen Strich durch die Rechnung machte, zogen wir notgedrungen zwei Wochen später los, um am Alten Silvester teilzunehmen. Leider waren wir bei Weitem nicht die Einzigen, die dieses urtümliche Spektakel miterleben wollten. Bei unserer Ankunft waren die Dörfer bereits vollgeparkt mit Autos, stammend aus der ganzen Schweiz. Vollkommen kurzfristig, aber sehr zu unserem Glück, wurde meine Mutter und somit auch wir als ihr Anhängsel von ihrem Arbeitskollegen zu sich nach Hause in Waldstatt eingeladen. Er hatte in seiner Garage eine private Festwirtschaft für Freunde und Familie organisiert, mit Festbänken, Stühlen, Tischen und sehr, sehr vielem Essen und Trinken. Was für ein Augenschmaus! Zu unserer Erleichterung war der Raum geheizt, hatten wir uns doch aus lauter Sorge um die Kälte wie Eskimos eingepackt. Skiunterwäsche, Strumpfhosen, Mütze, dicke Schals und eine noch dickere Jacke, Handschuhe und Skisocken mit integrierter Heizung. Nur zur Sicherheit, Frau will ja nicht frieren! Doch die Sorge war umsonst. Zudem hatte der Gastgeber dafür gesorgt, dass die Silvesterchläuse höchstpersönlich vorbei schauten, um für uns in seinem privaten Gemäche zwei, drei Ständchen zu halten. Eine Gruppe, traditionell Schuppel genannt, kam nach der anderen hereingestürzt, fortlaufend schwenkend mit ihren riesigen Glocken und Schellen, und veranstalteten einen ohrenbetäubenden Lärm. Sobald der Klang allmählich verstummte (alles ging nach dem immergleichen, immer wiederkehrenden Ritual), rückten die verkleideten Männer näher zusammen und lauschten andächtig. Diesem Moment wohnte etwas beinahe Heiliges inne, die Gespräche des Publikums verstummten augenblicklich, es herrschte absolute Stille. Sie wurde erst ausgiebig ausgekostet, bevor einer der Chläuse den Anfang wagte und einen volkstümlichen Naturjodel anstimmte. Nachdem die anderen Chläuse eine Zeit lang aufmerksam zugehört hatten, stiegen sie mit einem passenden Mehrstimmengesang mit ein. Immer dreimal wurden gezauert (gesungen), bevor die Chläuse mit heftigem Schütteln der Glocken und einigen kleinen Hüpf- und Tanzeinlagen das neue Jahr anwünschten und wieder in die Nacht hinaus verschwanden.

Zu unterscheiden gilt es dabei die wüeschte Chläus und die schöne Chläus. Die grässlichen, wüsten Chläuse sind die bis zur Unkenntlichkeit verkleideten Gestalten aus Holzspänen, Fellen, Tannzweigen, Blätter, Stroh, Heu, Ästen und Hörnern. Der Fantasie werden dabei keine Grenzen gesetzt, doch allesamt benutzen sie Naturmaterialien des Waldes um daraus Kostüme in aufwendiger Eigenregie zusammen zu schustern. Manche Kostüme bringen mitsamt den Schellen, die die Männer tragen, gut dreissig Kilo auf die Waage. Deswegen sind bei den Erwachsenen auch nur noch Männer mit dabei, weil die Last für die meisten Frauen zu schwer ist. Das Chlausen dauert den ganzen Tag, und die Chläuse sind ab frühmorgens auf den Strassen und nachmittags in den Beizen unterwegs, länger als bis Mitternacht. Die schönen Chläuse sind üblicherweise in traditionellen Bauerntrachten gekleidet, mit den obligatorischen weissen Stulpen und Strümpfen, einem Kleid für die «Frau», und dem Jackett und den Dreiviertelhosen bei den Männern. Natürlich darf der hölzerne Gehstock eines jeden Älplers dabei nicht fehlen. Doch das erstaunlichste am Kostüm der schönen Chläuse sind ohne Zweifel ihre Hüte. Man nennt sie Hauben, und sie waren stets einem vorab definierten Sujet gewidmet, meist Szenen aus dem bäuerlichen Alltag. Liebevoll waren sie in jahrelanger Handarbeit angefertigt worden. Detailverliebte

kommen bei all den aufgeklebten, glitzernden und glänzenden Steinchen ins Schwärmen, sowie beim Anblick der wunderbaren Schnitzereien, die die Haube schmücken. Sie tragen wahre Kunstwerke auf ihren Köpfen, und sobald die Nacht über das Appenzellerland herein bricht, werden die Hauben von eingebauten



Lichterketten erleuchtet und weisen wie warm flackernde Laternen den Weg durch die Dunkelheit. Richtig würdigen kann man diesen Kopfschmuck allerdings erst, wenn man ihn aus nächster Nähe bestaunen kann. Erst da erkennt man die aufwendige Kleinstarbeit, und kann nur erahnen, wie viele Stunden Arbeit in diesen wertvollen Hauben steckt.



Während ich also so da hockte und die Darbietungen genoss, verfiel ich beinahe in eine Art Trance. Ich vergass alles um mich herum, ich sass bloss da und sog alles in mich auf. Verwendete dazu alle meine Sinne. Ich sah die atemberaubenden Kostüme und Hauben. Genoss die Stille, hörte den wunderbaren Gesang, der sich manchmal so wunderschön ergänzte, die einzelnen Stimmen perfekt resonierten, sich manchmal kurz rieben, nur um gleich danach wieder zusammen zu finden und sich in einem grossen und ganzen Geflecht erneut zu vereinen. Es war Zauber, es war Magie, es war… unbeschreiblich. Und es fühlte sich einfach grossartig an, ein Teil davon zu sein. Ich konnte die Vibrationen spüren, die der Gesang und die Schellen in meinem Körper verursachten. Wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wurde und dabei Wellen verursacht, die sich ausbreiten und dabei immer grösser werden. Genauso fühlte es sich an. Als hätten sie einen Stein ins Wasser geworfen, und die Wellen breiteten sich in meinem Körper aus, weiter und weiter, drangen in jeden Winkel vor, und sei er noch so versteckt, um ihn in sanfte Schwingungen zu versetzen. Und wenn ich die Augen schloss hatte ich das Gefühl, in den Bergen zu sein. Ich konnte die frische Luft, den Wald riechen, den die Kostüme der wüeschte Chläus mit ihren Naturmaterialien verströmten.


Genau so stellte ich mir die Schweiz vor, wie sie früher gewesen war. Urchig und urtümlich. Wie sie sein sollte, und wie man sie heute noch sehen sollte. Mit all diesen wundervollen, wertvollen und ursprünglichen Brauchtümern der Bauern. Die ganze Gemeinschaft des Dorfes hatte sich hier versammelt um miteinander das neue Jahr zu feiern. Jeder war willkommen, man kannte sich hier. Und wer nicht hier war, der wurde zu Hause besucht und mit einem netten Ständchen beglückt. Auch wir von Ausserhalb wurden äusserst herzlich und mit offenen Armen aufgenommen. Es war diese Selbstverständlichkeit dieser Gemeinschaft, die mich zutiefst berührte. Ich habe viele Orte dieser Welt bereist, habe erkannt, was diese Orte ausmacht, sie definiert, zusammenhält, besonders macht. Und ich kann mit Sicherheit behaupten, dass es in jedem einzelnen Fall die Kultur war, die Bräuche und die gemeinsame Vergangenheit, die das Land und deren Einwohner verband und zusammenhielt. Und auch das, was es für mich so interessant und sehenswert gemacht hat. Womit also kann die Schweiz aufwarten? Was ist unsere Kultur? Ich weiss es ehrlich gesagt nicht wirklich. In der Schule haben wir das nie gelernt. Wir lernten alle Staaten der USA und deren politisches System kennen, oder mussten die Länder Afrikas auswendig aufzählen und ihrer geografischen Lage zuordnen können. Alles, was ich über die Schweiz in meiner Schulzeit erfuhr war, dass es Wilhelm Tell nie gegeben hat. Und damit ist mein Sinn für Patriotismus begraben worden. Es scheint fast, als hätten wir unsere Wurzeln vergessen. So vieles ist verloren gegangen. Die Schweiz kennt keinen richtigen Zusammenhalt mehr, weil wir unsere gemeinsame Vergangenheit vergessen haben. Wir haben aufgehört, unsere alten Bräuche zu pflegen und unsere Kultur ist Jahr für Jahr ein wenig mehr verkümmert. Wir Schweizer sehen uns nicht mehr als ein Volk. Oder zumindest zu wenig. Für ein solch kleines Land finde ich das sehr, sehr bedauerlich.

Wenn ich auf meinen Reisen Fremden von meinem Heimatland erzähle, dann gehören für mich die Zauber, die unser Land in sich birgt, an erste Stelle. Dann ist die Schweiz für mich Kühe, Alpen, Käse und Heidi. Nicht nur, natürlich, aber wenn ich an die schweizer Kultur denke, dann denke ich daran. Heidi ist eine Figur, die uns auf der ganzen Welt berühmt gemacht hat. Selbst in Island wurde ich auf Heidi angesprochen und war total überrascht zu hören, dass Kinder heute noch mit ihrer Geschichte aufgewachsen. Oder in Indien, wo Inder nun ihre eigene Hindiversion von Heidi aufgesetzt haben. Mit solchen Dingen sollten wir werben. Wir brauchen uns nicht zu verstecken! Wir können stolz darauf sein, von einfachen Bauern und Arbeitern abzustammen. Menschen, die dieses Land gepflegt und gehegt haben, es geliebt haben. Die Zeit hat einiges verändert, aber wir dürfen nicht vergessen, wo wir herkommen. Andere Länder sind das beste Beispiel dafür wie wichtig es ist, die eigenen Sitten und Traditionen am Leben zu erhalten. Seine Wurzeln zu kennen. Denn wer wären wir sonst, wo gehörten wir hin, wenn wir diesen Bezug verlieren würden? Dann gäbe es keine Schweiz, kein Volk mehr, sondern nur noch eine ferne Erinnerung, ein verblassender, sterbender Stern am Horizont. Deshalb fordere ich euch auf: Rettet das Schweizer-Volksbrauchtum! Rettet unsere Kultur, unsere Herkunft, unsere Wurzeln. Lasst uns darauf zurückbesinnen, was uns einst verband, und lasst es uns pflegen, damit es in neuer Schönheit erblühen kann. Wie ein zarter Samen im Winter, der mit etwas Sorgfalt und Liebe im Frühjahr als Blume seine Blüten der Sonne entgegenstrecken wird. Für unsere Helvetia, die so wunderschön ist, dass wir sie nicht aufgeben dürfen. Auf die Schweiz!

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I am a 29 year old traveller. While I also love to Photograph and write down my thoughts just as plain and simple as they are, I decided to share this with who ever might be interested in reading about my adventures. Some might be in german, other in english, because I love to write in both languages. All that is left to say now: I hope you´ll enjoy:)

 

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