top of page

Hate Love Varanasi

  • Autorenbild: Restlesstraveller
    Restlesstraveller
  • 23. Feb. 2018
  • 8 Min. Lesezeit

ree

Sie gilt als die älteste Stadt der Welt. Ihr genaues Alter kennt niemand, es wird aber gesagt, dass die Stadt 1200 vor Christus von Kashya erbaut worden sei. Als ich meine Tour buchte, bestand ich darauf, dass diese Stadt in der Rundreise enthalten war. Leider gab es im Internet kaum Angebote, die Varanasi auf ihrer «goldenen Dreieck» Tour miteingeplant hatten. Nach längerer Suche wurde ich dann doch fündig. Und bin froh, dass ich so hartnäckig geblieben bin, denn diese Stadt einmal zu erleben ist ein unbezahlbares Ereignis! Doch von Anfang an.


Nach Delhis stressigem und lautem Alltag war es eine Genugtuung für meine Ohren, in Varanasi zu landen. Es wurde zwar noch immer viel gehupt und geschrien, doch es gab deutlich weniger Menschen und Fahrzeuge, was den Lärmpegel erheblich senkte. Nachdem wir die Nacht in einem Zug verbracht hatten, waren wir alle froh, endlich im Hotel anzukommen und uns eine wohlverdiente, reinigende Dusche zu gönnen. Nachmittags ging es auf eine erste Entdeckungstour. Während Delhis Strassen zum Bersten vollgestopft gewesen waren, war es für mich nun fast ungewohnt und unangenehm, so viel Platz für mich zu haben. Entlang des Ganges waren solch breite Treppen und Wege gebaut worden, dass ich mir fast etwas allein und verloren vorkam. Kein ständiges Streifen, Schubsen und Reiben mehr aneinander. Nicht mehr ständig den Geruch der Person, die vor einem gedrängt lief, in der Nase, nicht mehr ständig eine Schulter oder ein Arm eines Fremden an die Seite gepresst, nicht mehr diese erzwungene, beklemmende Nähe von Unbekannten. Was für eine Wohltat!

ree

Der Spaziergang führte uns von der einen Seite Varanasis entlang des Ufers bis zum Zentrum. Wir liefen vorbei an grossen, mächtigen Gebäuden, die den Flussweg säumten. Der Zerfall hatte sie alle in seinem eisernen Griff gefangen gehalten, und doch konnte man noch immer erahnen, was für herrschaftliche Häuser das früher einmal gewesen sein mussten. Irgendwie erinnerte mich die Stadt an Venedig. Es musste am vielen Wasser und den Booten liegen, denn wie in Venedig galt hier das Boot als Hauptbewegungsmittel. Kilometerlang säumten alte, bunt bemalte Holzboote das Gangesufer. Staunend flanierten wir in äusserst gemächlichem Tempo voran. Ständig fanden sich neue Objekte der Begierde vor unseren Linsen, das alltägliche Leben hier entlang des Ganges war geprägt von heiligen Ritualen und der traditionell hinduistischen Kultur. Männer und Kinder, die sich im Fluss wuschen, während Frauen in leuchtenden Saris sich in Gruppen fanden, um gemeinsam zu waschen. Überall flatterten bunte Gewänder in der etwas kühlen Brise, und Männer sowie Frauen waren unterwegs und verkauften Gedenkkörbchen, Chai oder sonstige Souvenirs für Touristen. Immer wieder priesen Männer Bootstouren auf ihren nicht unbedingt vertrauenswürdig aussehenden Kuttern an. Die meisten besassen keinen Motor sondern waren Ruderboote. Und dann passierten wir die erste Kremationsstelle. Obwohl es ein Ort von Tod und Abschied war, wirkte er durch all die farbenfrohen Blumengestecke, die spielenden Kinder und die hier überall vertretenen heiligen Farben orange, gelb und rot durchaus fröhlich und unbeschwert. In einem kleinen, offenen Raum sassen einige Männer um ein Feuer rum und hielten eine private Zeremonie ab. Zu der Verbrennung der Verstorbenen waren nur Männer geladen. Frauen durften nicht dabei sein. Man sagte, dass das Weinen der Frauen über den Tod von geliebten Menschen die Seele dieser Person zurück hielt und ihr die Erlösung verwehrte. Wer in Varanasi verbrannt wurde und wessen Asche in den heiligen Ganges getragen wurde, galt im Hinduismus als direkt erlöst vom immerwährenden Zyklus der Wiedergeburt, Samsara genannt. Dessen Seele sollte Ruhe finden im Nirwana. Deshalb war es vielen Hindus ein Anliegen, entweder in Varanasi zu sterben, oder zumindest dort verbrannt zu werden. Die Feuerstelle am Ufer des Ganges brannte zwar, und die angehäufte Asche zeugte von vorhergehenden Kremationen, doch sie war bis auf Holz- und Kohlenreste leer. Kein menschlicher Körper. Pro Tag wurden in Varanasi ungefähr 300 Leichen verbrannt. Ein boomendes Geschäft. Wir liefen weiter, tief beeindruckt und doch etwas befremdet durch diese uns unbekannte Brauchtümer. Wir erfuhren von unserem Guide, dass Hindus bei den Beerdigungszeremonien den Tod nicht allzu lange betrauerten, sondern stattdessen versuchten, das Leben, das dieser geliebte, verstorbene Mensch gelebt hat, zu feiern. Das fand ich eine schöne Vorstellung.

ree

Unser Ausflug führte uns weiter entlang des heiligen Flusses, bis wir uns dem Zentrum der Stadt näherten. Bald kehrten wir dem Ganges den Rücken und kämpften uns durch das Herz Varanasis, durch schmale Gässchen, wovon eins dem anderen glich und man sich ohne zu Blinzeln sofort verirren konnte, hätte man keinen Guide, der sich auskennt. Und sie waren voll mit Menschen. Tausende Inder, Touristen und Gläubige quetschten sich durch die engen Gassen aneinander vorbei, ständig bestrebt, möglichst schnell von A nach B zu kommen. Unterbrochen wurden sie dabei immer wieder von hupenden Motorrädern, die sich mühsam zwischen die Massen drängten. Die Gässchen waren geschmückt mit Shops, die es wie in Delhi hier zu tausenden gab. Vielfältig waren die Angebote: Blumen und Opfergaben für die hinduistischen Götter, glitzernde Armreifen und goldene Ohrringe, Steinchen, die man als drittes Auge auf die Stirn zwischen die Augenbrauen kleben konnte, indische Spezialitäten gleich vor Ort in einer meist öligen, verbeulten Pfanne gekocht, Erfrischungsgetränke, kleine Kunstobjekte oder indische Gottheiten aus Marmor und Kupfer, Pfauenfedern (als Symbol für Gott Shiva, der hier sozusagen der Hausgott war) leuchtende Saris, glitzernde Taschen und bunte Schals und vieles mehr. Das Auge konnte sich kaum satt sehen an den vielen Farben und Eindrücken, und die Nase sich kaum satt riechen an den vielen verschiedenen Gerüchen von Essen, Seifen, Parfums, Abgasen und dem leichten Odeur von Fäulnis und Urin. Das alles vermischte sich allerdings nicht, sondern wechselte sich ab, immer dominierte ein anderer Duft und erfüllte für kurze Zeit die Luft.

ree

Am Meisten beeindruckt haben mich die abendlichen Gebetszeremonien. Wie viele andere hatten wir für dieses Ritual ein privates Boot gebucht und beobachteten die Vorgänge an Land vom Wasser aus. Nach Sonnenuntergang begannen die abendlichen Gebete. Dabei standen 5 oder 6 Priester umringt von Gläubigen und Schaulustigen, und huldigten mit ihrem Gesang und den genaustens definierten Bewegungsabfolgen ihre Götter. Immer wieder wurden Opfergaben dargebracht in Form von Blumenblätter oder Pfauenfedern (die für die Gottheit Shiva steht), die verstreut wurden. Auch wir opferten dem Ganges kleine Pappgefässe, gefüllt mit roten Blütenblättern und einer brennenden Kerze. Für jede Opfergabe konnte man sich etwas wünschen. Sobald man sie dem Fluss geopfert hatte, nahm er sie auf und erfüllte den Wunsch, sollte der heilige Fluss das für richtig halten. Nachdem ich meinen Wunsch dem heiligsten aller indischen Flüsse übergeben hatte, setzte ich mich auf den Bug des Bootes und lauschte andächtig dem Gesang, der vom Ufer her durch den Wind bis zu uns getragen wurde. Mein Blick folgte den blinkenden Lichtern unserer Wünsche, die auf dem Ganges davon trieben, und verlor sich darin. Es existierte keine Zeit, kein Stress, keine Sorgen, nur dieser eine Moment zählte. Sanft wogen die Wellen das Boot und gaben mir das Gefühl von Geborgenheit. Ich fand völlige Ruhe und Frieden in mir, in diesem Moment, während der Gesang der Priester mich einlullte und an einen sicheren Ort brachte, den nur ich alleine kannte.

ree

Wie heilig der Fluss für die Hindus ist, zeigt sich auch darin, wie oft sie sich darin waschen. Täglich waschen sich tausende darin. Doch damit ist der Nutzen des Flusses für heilige hinduistische Rituale noch lange nicht erschöpft. Während Erwachsene nach ihrem Tod verbrannt werden (wer es dafür nicht nach Varanasi schafft, der wird von seinen Angehörigen in seiner Heimat eingeäschert) gibt es dafür einige Ausnahmen: Kinder unter 12 Jahren gelten als unschuldig und dürfen nicht verbrannt werden. Auch Schwangere dürfen nicht dem Feuer überlassen werden, weil sie ungeborenes Leben in sich tragen. Des Weiteren dürfen Menschen mit Schlangenbiss nicht eingeäschert werden, denn die Schlange ist auch ein heiliges Tier und steht für Macht über den Tod im Zusammenhang mit Gott Shiva. Diese Menschen werden entweder vergraben oder dem heiligen Fluss zurückgegeben. Mönche und Heilige erhalten ein eigenes Ritual: Unsere Führerin erzählte von einem Erlebnis, das sie vor einigen Jahren in Varanasi miterlebt hatte. Damals wurde ein Mönch beigesetzt. Man hatte den verstorbenen Mönch im Schneidersitz auf einem Stuhl gesetzt, und dort sass er nun in ewiger Pose versteinert durch die Totenstarre. Man hatte ihn an den Stuhl gebunden und den Stuhl des weiteren mit Gewichten versehen, sodass er auf den Grund sinken und dort bleiben würde. Dann warf man den Mönch samt Stuhl über Bord.


Kaum nachdem sie uns das erzählt hatte, machten einige von uns auf dem Rückweg eine schockierende Entdeckung. Während ich mich mit meiner Zimmergenossin unterhielt, erblickte ich in der Ferne ein grosses, weisses Etwas, das an der Wasseroberfläche trieb. Von Weitem sah es aus wie ein Paket, das jemand in den Fluss geworfen hatte, was nicht wirklich besonders war, da die Inder alles Mögliche in diesen Fluss schmissen. Ohne meine Unterhaltung zu unterbrechen, behielt ich es im Auge. Als es näher kam, erkannte ich, dass es Stümpfe hatte. Es sah aus wie eine Woodoo Puppe, und ich dachte mir, dass einige dem Fluss wohl so ein Opfer dargebracht hatten. Später erfuhr ich, dass die anderen das Selbe gedacht hatten, doch niemand nahm wirklich aktiv Notiz davon. Erst, als es direkt unter mir am Boot vorbei schwamm, erkannte ich mit Schrecken, dass die Puppe keine Stümpfe hatte, sondern Beine mit Füssen dran, die bloss unter der Wasseroberfläche abgesunken waren. Schockiert wanderte mein Blick automatisch dem weissen Körper entlang nach oben, während sich in meinem Kopf bereits die grausige Wahrheit offenbart hatte: das war eine Leiche! Als mich diese Erkenntnis traf, riss ich meinen Blick los und starrte in drei weitere, entsetzte Gesichter, die mich fassungslos und mit weit aufgerissenen Augen ansahen. Wir alle rangen nach Worten, um zu definieren, was wir grad alle gesehen hatten. «War das…?», presste jemand schockiert heraus. «War das wirklich?», stammelte jemand entsetzt. «Eine Leiche», beendete ich tonlos.


Wir fragten bei den beiden Bootsführern nach, und ja, sie hatten sie auch gesehen. Ein Kind. Ich stand unter Schock. Die Bilder hatten sich für immer in mein Gehirn eingebrannt, und ich würde diesen Anblick wohl mein Leben lang nie mehr vergessen. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Leiche sah. Doch beim ersten Mal, da war es mein verstorbener Grossvater gewesen, und man hatte ihn für die Beerdigung schön hergerichtet und nett angezogen, sodass es für mich ausgesehen hatte, als schliefe er friedlich. Diese Leiche allerdings war entstellt und nackt gewesen. Weiss, tot und aufgedunsen. Ich werde es nie vergessen. Es musste eine ärmliche Familie weiter oben entlang des Ganges gewesen sein, die ihr verstorbenes Kind in den Fluss geworfen haben. Der Leichnam war dann gen Norden getrieben, bis nach Varanasi, bis er unser Boot passiert und uns allen wohl ein kleines Trauma beschert hatte. Jetzt ist mir auch klar, warum der Ganges als einer der meist verschmutzten Flüsse der Welt gilt, und warum von einem Bad darin ausdrücklich abgeraten wird. Oberflächlich sieht man ihm nicht viel an, doch nun habe ich erfahren, was auch unter der Oberfläche lauert. Ich werde ein Bad darin nie wieder auch nur annähernd in Erwägung ziehen!

ree

Tod und Geburt liegen nahe beieinander in Varanasi, sowie Freude und Leid. Und während wir auf unserer morgendlichen Bootstour zu der grössten Verbrennungsstelle Varanasis dem Tod mehrmals begegneten, so war es der Sonnenaufgang, der für mich an diesem Tag das Leben symbolisierte. Feuerrot leuchtend ging die Sonne hinter den Hügeln des Ganges auf und stieg schnell und unaufhaltsam höher. Wenn man lange genug hinsah hatte man das Gefühl, man könne förmlich sehen, wie rasch sie gen Himmel stieg. Ihr Glanz verwandelte sich langsam zu orange, und als sie genug hoch stand wurden ihre Strahlen zu einem warmen Gold, welches sich über die ruhende Oberfläche des Ganges ergoss. Tausende Seemöwen stoben wie auf Kommando auf und stürmten wehenden Flügelschlags davon. Ja, das ist Indien. Das Land der Gegensätze: Schock und Freude, Elend und Reichtum, Freude und Leid, Schönheit und Schrecken, Hass und Liebe liegen nahe beieinander, ja sind sogar untrennbar miteinander verknüpft. Das eine bedingt das andere, das andere kann ohne das eine nicht sein. Willkommen in Indien. Ein Land, welches man nicht mit Worten beschreiben kann, welches man mit allen Sinnen erleben muss. Und welches einem immer wieder überrascht. Und sprachlos macht.

ree


Comments


  • White Facebook Icon
About Me

I am a 29 year old traveller. While I also love to Photograph and write down my thoughts just as plain and simple as they are, I decided to share this with who ever might be interested in reading about my adventures. Some might be in german, other in english, because I love to write in both languages. All that is left to say now: I hope you´ll enjoy:)

 

Join my mailing list

© 2018 by restlesstraveller. Proudly created with Wix.com

bottom of page