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Alt werden

  • Autorenbild: Restlesstraveller
    Restlesstraveller
  • 5. Mai 2020
  • 4 Min. Lesezeit

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Alt werden ist so eine Sache. Wir alle wissen, dass es passieren wird. Unweigerlich. Unausweichlich. Und trotzdem: wir alle machen uns vor, dass es uns nicht treffen wird. Wir alle belügen uns und versuchen, so lange wie möglich in unserem Jungbrunnen zu verweilen. Wir tun alles, um nicht alt zu werden. Dabei hat alt werden etwas mystisches, etwas magisches. Man schreibt dem Alter zum Beispiel Weisheit zu. Je älter, desto weiser. Wenn ich so meine Grosseltern anschaue, dann kann ich dem nicht gänzlich zustimmen. Obwohl sie auf weit mehr Jahre in ihrem Leben zurückblicken können, könnte ich nicht mit der Behauptung einher gehen, dass sie weiser sind als ich. Im Gegenteil. Alter kann auch engstirnig und mürrisch machen. Ein Leben voller Gleichheit, jeden Tag dasselbe, tagein tagaus. Alltagsroutine lässt den Geist fest werden, lässt unsere Offenheit verkümmern. Ich allerdings versuche, seit ich begonnen habe zu reisen, meinen Geist offen zu halten. Offen für alles. Meinungen, Veränderungen, Erfahrungen. Menschen, Kulturen, Religionen, Geschichten. Ich glaube, nur wer bereit ist, offen auf alles und jeden zuzugehen, hat auch die Möglichkeit, weiser zu werden. Nur wer sich dem Leben mit all seinen Lektionen öffnet, nie aufhört, sich immer wieder selbst zu hinterfragen und zu reflektieren… nur wer bereit ist, ein Leben lang Schüler/in zu sein und die Welt mit den grossen Augen und unstillbarem Wissensdurst eines Kleinkindes erfahren will… nur diese Menschen sind für mich wahrlich reich an Erfahrungen und weise.


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Das ist aber nicht, warum ich hier schreibe. Der Grund, warum ich heute übers Alter schreibe, ist ein nettes, kleines Kaffee in der Altstadt von Baden. Ich setze mich gerne in niedliche Kaffees in mir fremden Städten und schreibe ganz für mich allein über eine Tasse heisse Schokolade oder köstlichen Tee. Heute gabs eine hausgemachte Schokoladenmischung mit Mélange und Lavendelsirup. Unglaublich erdend. Und während ich in meinen Text vertieft bin, kommt dieses alte Ehepaar ins Kaffee. Es gibt diese Vorurteile, dass man sich im Alter, nach so vielen Jahren verheiratet, nichts mehr zu sagen hat. Umso erfrischender, dass dieses Pärchen für mich das absolute Gegenteil verkörpert. Sie setzen sich gleich ans Fenster, und während er sich etwas zu Essen bestellt, entscheidet sie sich für ein Glas Prosecco. «Soll ich auch einen bestellen, damit wir anstossen können?», will er wissen. «Bestell du, was du möchtest, ich gönn dir das!», meint sie freundlich. Er bestellt daraufhin einen Espresso. Kaum erhalten sie ihre Getränke, hebt sie ihr Glas, und er seine Tasse. Sie lächeln sich an, während sie liebevoll verkündet: «Auf dich!» Sie tragen Partnerlook, wohl eher zufällig, weil das rot nicht wirklich zueinander passt. Ihre Bluse ist ein grelles hellrot, während er sich in einen weinroten Männerpullover gekleidet hat. Er liest hinter seiner schwarzen Hornbrille, doch er bezieht sie mit ein. Sie besprechen die Speisekarte, sind begeistert von der Einfachheit des Kaffees, was keineswegs etwas Schlechtes sein soll. Freundlich danken sie dem Kellner, als er das Essen bringt, und tragen ihre Freude darüber, wie lecker alles aussieht, offen zur Schau. Er beginnt, seinen Laugenbrezel genüsslich zu essen, und sie erkundigt sich ehrlich interessiert, ob es schmeckt. Er nickt mit vollem Mund, und bietet ihr ein Stück an, welches sie dankend ablehnt, und dann lachen beide. Sie haben nur Augen für einander, und während ich sie so beobachte, könnte man davon ausgehen, dass die beiden das Gefühl haben, alleine im Kaffee zu sitzen. Sie murmeln über die Dekoration, die lieblichen Zeichnungen von Vögeln an den Wänden. Sie lachen, freuen sich über dieses Gericht, und dass sie jetzt nicht mehr viel fürs Abendessen kochen brauchen. Er lacht und probiert etwas von ihrem Prosecco. Ich finde es berührend, wie man nach so vielen Jahren auf Erden sich noch so für die kleinen Sachen begeistern und interessieren kann. Bescheiden bleibt und die Einfachheit ehrt. Die kleinen, schönen Dinge im Leben nicht aus den Augen verliert, sie pflegt. Dazu gehört auch die Beziehung. Zusammen einen Kaffee trinken zu gehen, Quality-time zu verbringen - nicht, weil man das Gefühl hat, man muss halt. Sondern weil man möchte. Weil man den Partner schätzt, und weil man seine Gesellschaft geniesst. So lässt es sich gut alt werden.


Als sie von der Toilette zurück kommt, läuft sie schnurstracks zu ihrem Mann und drückt ihm mehrere Schmatzer auf den Mund. Sie kommentiert die Mütze des Mädchens, das gerade ohne ihre Mutter am Nebentisch sitzt, und bringt sie zum Lachen. Die beiden stehen auf, machen sich auf zu gehen, und er nimmt vorsichtig die Jacke vom Stuhl. Erst denke ich, es ist seine, doch dann tritt er zu seiner Frau hin, um ihr liebevoll und ganz Gentlemen-like die Jacke umzulegen.


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So stell ich mir älter werden gar nicht so schlimm vor. Im Gegenteil. So mit jemandem alt werden zu können, das ist eigentlich vollkommen okay. Mehr als das. Auch wenn die Gesellschaft uns etwas anderes weismachen will. Dass es gilt, es möglichst zu verhindern. Zu vertuschen. Falten und grauen Haaren muss man den Gar ausmachen, das ist nämlich nicht sexy. Sportlich bleiben, möglichst versuchen, den Körper so lange wie möglich in Form zu halten. Niemand mag Hängebrüste. Geschweige denn Haare im Gesicht, auch im Alter nicht. Die Füsse müssen gepflegt werden, und auch die Hände. Die Haut soll weich bleiben, elastisch. Alt werden ist schrecklich. Die ständige Angst davor, umzufallen. Sich etwas zu brechen. Krank zu werden. Und mit jedem Jahr, das vergeht, dem Tod ein Stücklein näher zu kommen. Wir jungen Leute sind so arrogant, dass wir denken, in unseren jungen Jahren könne uns der Tod nichts anhaben. Doch wir irren uns. Wie schnell und unvorhersehbar kann er zuschlagen. Auch jetzt. Deshalb würde auch uns etwas Demut nicht schaden. Demut dafür, was wir bereits haben. Und, was wir jeden Tag, immer wenn wir morgens zu einem neuen Tag erwachen, Neues erleben dürfen. Und zu erkennen, dass die Möglichkeit, so mit jemandem alt werden zu können, wohl das grösste Geschenk ist, das uns das Leben machen kann.

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